Die gegenwärtige Diskussion um Grundeinkommen und Asylreferendum zeigt: Nach dem Nein zur Durchsetzungsinitiative darf die «andere» Schweiz nicht nur an die nächsten Abstimmungskämpfe denken. Wer eine zukunftsfähige, offene, partizipative und faire Schweiz will, muss gesellschaftlichen Dialog wollen und vorwärtsbringen. Dafür braucht es einen neuen Denk- und Debattenort.
Im Juni stimmen wir über zwei Vorlagen ab, die Mega-Themen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung berühren: mit der Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erwerbseinkommen und Wohlfahrt in einer immer stärker digitalisierten Wirtschaft und mit der Asylgesetzrevision, wie wir angemessen auf die Herausforderung durch den Zuwachs an Schutz- und Perspektive-suchenden Menschen reagieren. Beide Abstimmungen zeigen auf je eigene Weise, dass in der politischen Arena unter den Bedingungen von Medialisierung und des intensiven Parteienwettbewerbs fundierte, breite gesellschaftspolitische Debatten schwierig angestossen und geführt werden können. Während die Argumente für das Grundeinkommen in der Abstimmungsdiskussion abstrakt und abgehoben wirken und es meistens bei der Beteuerung bleibt, dass die Grundsatzfrage (ja, welche denn?) wichtig sei, erinnern die holzschnittartigen und muffigen Argumente der Gegner an die Rhetorik des Kalten Krieges (die NZZ setzt die Grundeinkommens-Initiative mit der DSI gleich). Mit dem Referendum gegen die Asylgesetzrevision inszeniert die SVP wiederum einen Schaukampf, bei dem nicht mitzumachen fatal wäre – eine weitergehende Diskussion über unseren Umgang mit der weltweiten Migration sähe aber anders aus. Und seien wir ehrlich: dass die Durchsetzungsinitative verhindert werden konnte, war vor allem gelungenes massenhaftes dezentrales Politmarketing, das die Sorge um den Rechtsstaat und die Lust, der SVP, die sich so weit aus dem Fenster gelehnt hatte, einen Denkzettel zu verpassen (glücklicherweise) geschickt ansprechen konnte. Die Ohrfeige sass – das zeigt der Nazi-Methoden-Vergleich von Christoph Blocher. Aber nicht vergessen: mehr als 40% stimmten für die DSI und die Teilliquidation rechtsstaatlicher Grundsätze.
Wer an gesellschaftlichem Fortschritt und an einer zukunftsfähigen, offenen, beteiligungsreichen und fairen Gesellschaft in der Schweiz interessiert ist, will mehr als Schaukämpfe, politisches StockholmSyndrom und Aufrüstung der Politmaschinerien oder – so meine ich –: er/sie sollte mehr wollen. Sollte zuerst versuchen, gesellschaftlichen Wandel mit ihren Paradoxa zu verstehen. Zum Beispiel dieses: eine Gesellschaft, die nach dem Ende des kalten Krieges einen multikulturellen Meisterspurt hingelegt hat, aber die unanständigste rechtskonservativste Partei in Europa hat. Dann nachdenken und debattieren über die Spannung zwischen Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit, über das richtige Verhältnis von Offenheit und angemessener Sicherheit, über den möglichen Widerspruch zwischen Partizipation und Rückzugsansprüchen und den richtigen Ausgleich zwischen Fairness und Eigenverantwortung. Es braucht Ideen – wer keine hat, muss sie entwickeln –, es braucht Debatten und Diskussion – wenn sie nicht da sind, muss man sie schaffen.
Für dieses Verstehen, das Nachdenken, die Entwicklung von Ideen und den Anspruch, gesellschaftliche Debatten zu führen und Raum dafür zu schaffen – dafür gibt es heute nicht wirklich einen Ort, geschweige denn eine starke, seriöse Stimme. Ja, es gibt eine unübersichtliche Anzahl von Vereinen, akademischen Zirkeln, Politvereinigungen und Veranstaltungen, Blogs, Websites und Kommentatoren und -innen. Manchmal wird auch in den Parteien nachgedacht, an Klausuren, Retraiten und Schwerpunktmeetings. Und – so meine Wahrnehmung – es wird auch an den Familienund Freundestischen wieder mehr als auch schon über Gesellschaft als über Aktien diskutiert. Überall ist aber auch nirgends. Viele Menschen wie ich - jenseits 40 -, mit denen ich in der letzten Zeit zu tun hatte und die sich über das Scheitern der DSI gefreut haben, finden es stossend, dass sich die globalisierte Wirtschaft mit Avenir Suisse eine Institution leistet, die deren Denkarbeit erledigt und mindestens den Entscheidern evidenzbasierte Politikempfehlungen und Denkanstösse geben kann.
Es ist an der Zeit, einen Think Tank zu schaffen, der gesellschaftliche Fragestellungen aus einer anderen Perspektive betrachtet. Keine Studienfabrik, sondern eine Institution, die selber tut, was sie vertritt: auf der Basis von fundierter Information Dialoge anstossen, „Zukünfte“ entwickeln und zur Diskussion stellen. Das muss nicht einmal Think Tank heissen (vielleicht GERADE nicht), aber ein Reservoir für freies Denken sein.
Zwei Fragen und eine Anmerkung dazu habe ich noch: welches Programm hätte ein solcher Think Tank, d.h. was macht die «andere» Perspektive aus? Und wer könnten die Träger sein? Zum Programm: Zukunftsfähigkeit, Offenheit, Partizipation und Fairness müssten als Orientierungspunkte für Forschung, Debatte und Entwicklung von gesellschaftspolitischen Optionen vorerst genügen. Aber wenn es denn ein Etikett braucht, ist es wohl die Agenda eines «neuen Republikanismus», dessen Leitidee die «Aneignung öffentlicher Angelegenheiten als Angelegenheiten aller» ist, also «um die Wiederbelebung von Politik als öffentlichem Raum, in dem um das Allgemeinwohl gestritten und um Alternativen gerungen wird» (Ralf Fücks). Damit positioniert sich dieser Denk- und Dialogort auch differenziert gegenüber den Aktivitäten mit «liberaler» oder «etatistischer» Agenda. Und neu muss auch heissen: statt Beschwörung republikanischer Ideale im exklusiven Kreis von Notablen der «helvetischen Gesellschaft» ein open source-Ansatz mit innovativen Partizipations- und Dialogformen für Interessierte. Zur Trägerschaft: die Grünliberale Partei hat gemäss Berichten kürzlich eine Bildungsreise nach Österreich gemacht und denkt über die Schaffung eines Think Tank nach. Das ist ein guter Schritt. Es wäre aber ein Jammer, wenn das Projekt am langen oder kurzen Arm einer einzelnen Partei verhungern müsste. Das heisst: eine Trägerschaft muss breiter sein und die Finanzierung mehr als ein mageres Marketing-Investment, um die «Generation Libero» institutionell einzubinden. Ganz abgesehen davon, dass die Agenda eben nicht nur die alchemistische Verbindung von wirtschaftspolitischem Liberalismus («Me too!») und gesellschaftspolitischer Toleranzdeklaration umfassen sollte – die «andere Schweiz» ist vielfältiger. Ist die Hoffnung nicht berechtigt, dass ein solches Projekt durch Philantropen und –innen anständig finanziert werden könnte, wenn solche bei anderer Gelegenheit Millionen für Medienvielfalt ausgeben? Oder dass im Schatten der Freiheit von Universitäten oder ETH eine solche Initiative ihren Heimathafen haben könnte?
Und eine Anmerkung zum Schluss: Die Ambition dieses Ortes für eine zukunftsfähige, offene, beteiligungsreiche und faire Schweiz könnte es sein, über Entscheider und Eingeweihte hinaus eine breitere gesellschaftliche Diskussion über relevante Themen vorwärts zu bringen – und damit der Zivilgesellschaft einen Raum zu geben, den sie in den Medien in den letzten Monaten schon bekommen hat.
Kommentar schreiben