Neoliberalismus am Ende – auch in unseren Köpfen?

In den Medien macht die Rede vom „Ende des Neoliberalismus“ die Runde. Der Anlass ist die kritische Auseinandersetzung von Ökonomen des Internationalen Währungsfonds IWF mit wichtigen Dogmen der wirtschaftspolitischen Eliten in den vergangenen drei Jahrzehnten. Gut so. Es ist auch Zeit, die gesellschaftspolitische Dimension des aggressiven Markt-Gospels zu hinterfragen.

 

Die drei IWF-Forscher diskutieren in ihrem Artikel die Wirksamkeit und die Auswirkungen zweier „neoliberaler“ Wirtschaftsrezepte: erstens den freien Kapitalverkehr und zweitens eine Politik der knappen Staats-Kassen („Austerität“). Ihr Fazit ist - bei viel Willen zur Ausgewogenheit und wissenschaftlicher Akkuratesse - deutlich: in Summe – so die Autoren – habe ungehinderter Kapitalverkehr, hätten vor allem kurzfristige Kapital ab- und -Zuflüsse kaum die versprochenen positiven (Wachstums-) Effekte, sondern solche würden die Volatilität und die Risiken von Krisen erhöhen. Die negativen Auswirkungen von Austeritätspolitik würden hingegen unterbewertet; die Möglichkeit, bei ausreichendem finanziellen Spielraum mit hohen Staatsschulden zu leben und diese organisch durch Wachstum anstatt Haushaltskonsolidierung zu reduzieren – diese Politikoption sei „underappreciated“.

Zudem machen die drei ökonomischen Musketiere darauf aufmerksam, dass die Kombination von ungehindertem Kapitalverkehr und Austerität zu einem Anstieg der gesellschaftlichen Ungleichheit führe und diese – so sei ausreichend bewiesen - untergrabe Wachstum. Mit anderen Worten: die Neoliberalen sägen am Ast, auf dem sie sitzen wollen.

 

Überraschend ist dieser Artikel aus dem „Innern des Monsters“ (wie Che Guevara meinte) nicht: schon seit geraumer Zeit geht das Gespenst der gesellschaftlichen Ungleichheit um (in Europa und den USA), und in der Griechenland-Krise lieferten sich der deutsche Schäuble und der griechische Varoufakis ein Nah- und Fernduell mit ähnlichen Standpunkten bezüglich Diagnose und Rezepten (politische Rhetorik und Symbolhandlungen prominent ignoriert). Einige Beobachter (so auch Mark Schieritz in der neusten Ausgabe der ZEIT) deuten den Artikel als Zeichen der Lernfähigkeit des „Systems“ – wofür man aus meiner Sicht nicht dankbar sein muss, sondern was man von Akteuren erwarten darf, wenigstens, wenn man die marxistische Orthodoxie und die linken Verschwörungstheorien hinter sich gelassen hat.

 

Bemerkenswert ist dieser Artikel, weil er in offiziellem Umfeld plötzlich nüchterner von Dingen spricht, die bisher als nicht hinterfragbare Wahrheiten galten, Politikrezepte wie Naturgesetze waren oder wenigstens die verschollene zweite Tafel der Zehn Gebote. Und das eröffnet auch das Feld für nötige gesellschaftliche Diskussionen. Zwar ist die „neoliberale Agenda“ eigentlich nur ein Rezeptbuch für ökonomisches (Staats-) Handeln (und da kann es vorkommen, dass man das eine Rezept besser mag als andere oder gar ganz verschmäht).

 

„Neoliberale“ Auffassungen und Wertmaßstäbe haben in den letzten Jahrzehnten auch unser gesellschaftliches Sein, unser Denken und Handeln stark beeinflusst – wir haben den Gospel des freien Marktes gehört und folgen ihm. Zum Beispiel die Maxime des „handle unternehmerisch!“, die „Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship“ (Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst). Ja klar: „can do“-Mentalität und „just do it!“-Spirit sind wichtig, um (wirtschaftliche) Chancen zu packen und Unternehmungen zu bewegen. Kompetitivität und stetige Optimierung sind unabdingbar, wenn es darum geht, Potentiale von Unternehmungen zu erschließen und Wert zu vermehren. Wir müssen aber die Durchökonomisierung unserer ganzen Existenz, die „Tendenz zu gesteigerter Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung“ (noch einmal Bröckling), die alle Lebensbereiche umfasst, hinterfragen – und vor allem das unkritische bis propagandistische Ruminieren der Glaubenssätze. Die Sicht auf uns selber als unternehmerisch zugerichtetes Individuum, das für seinen Lebens-Erfolg und –Misserfolg, allein verantwortlich ist – das ist auch kein Naturgesetz, hat ganz sicher negative Auswirkungen (auf uns selbst, unsere Familien und Freunde) und untergräbt unsere Wachstumschancen – als Menschen UND Unternehmer/-innen.

 

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